Warum der Morgen für mich die härteste Zeit des Tages ist

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Lange Zeit war ich überzeugt, dass es allen Menschen schwerfällt, morgens in die Gänge zu kommen. Ich dachte, es sei einfach eine Frage des Chronotyps: Morgenmensch oder Nachteule. Ich habe mich selbst immer klar als Nachteule gesehen. Dass die bleierne Schwere, mit der ich jeden Tag starte – unabhängig davon, wie viel ich geschlafen habe – etwas mit meiner Neurodivergenz zu tun haben könnte, war mir nicht bewusst.

Erst nach meiner ADHS und Autismus Diagnose habe ich begriffen: Das geht nicht allen so. Die meisten Menschen wachen vielleicht ein wenig verschlafen auf, aber nach wenigen Minuten sind sie ansprechbar, können denken, reden, handeln. Bei mir fühlt es sich an, als wären Körper und Geist noch stundenlang in Watte gepackt, auch wenn meine Augen längst offen sind.

Und ich erlebe das nicht allein. Drei meiner Kinder haben dieselben Schwierigkeiten. Sie morgens aus den Betten zu bekommen, anzuziehen und rechtzeitig für den Schulbus fertigzumachen, ist ein täglicher Kraftakt, während ich selbst kaum in der Lage bin, klare Sätze zu formulieren. Jede Frage, die sie mir stellen, fühlt sich an wie ein zusätzliches Gewicht, weil Antworten in diesem Zustand so viel Energie kosten. Gleichzeitig muss ich Jausenboxen füllen, die Uhr im Blick behalten und ein neurodivergentes Familienchaos managen, das gegen die Taktung des Schulbusses läuft.

Die Ironie: Diese Last beginnt nicht erst am Morgen. Schon am Vorabend liege ich oft wach, weil ich weiß, was am nächsten Tag auf mich zukommt. Die Anspannung raubt mir manchmal genau den Schlaf, den ich so dringend bräuchte.

Wenn die Kinder schließlich am Bus sind, beginnt meine eigene Routine: mich fertig machen, die Jüngste in den Kindergarten bringen und irgendwie versuchen, mein langsam hochfahrendes Gehirn auf das Tempo der Außenwelt einzustimmen. Trotz bester Absichten starte ich fast immer später in den Tag, als ich möchte.

Heute habe ich das Glück, in einem Job zu arbeiten, der mir zeitliche Flexibilität erlaubt. Das war nicht immer so. Jahrelang musste ich Punkt acht Uhr im Büro sein. Rückblickend frage ich mich, wie ich das durchgehalten habe. Wahrscheinlich mit enormem Kraftaufwand – und zu Lasten meiner Gesundheit.


Warum ADHS und Autismus das Aufstehen so schwer machen

ADHS und Autismus beeinflussen den Start in den Tag auf unterschiedliche, aber sich überlagernde Weise. Menschen mit ADHS haben morgens besonders niedrige Dopamin- und Noradrenalinspiegel – Motivation, Fokus und Energie sind auf dem Tiefpunkt. Hinzu kommt, dass viele Betroffene eine verschobene innere Uhr haben und dadurch später einschlafen und morgens schwerer in Gang kommen.

Autismus bringt eine andere Dimension dazu: unregelmäßige Melatoninzyklen, weniger erholsamer Schlaf und die besondere Belastung von Übergängen. Der Wechsel vom Schlaf- in den Wachzustand bedeutet Licht, Geräusche, Kleidung, Interaktion – alles zu einem Zeitpunkt, an dem das Gehirn noch nicht „hochgefahren“ ist.

In Kombination verstärken sich diese Effekte gegenseitig: ADHS erschwert den Start, Autismus macht die sensorische und organisatorische Belastung der Morgenroutine überwältigend. Zusammen entsteht eine doppelte Reibung, die den Morgen unverhältnismäßig schwer erscheinen lässt.


Was die Forschung zeigt

Studien bestätigen vieles von dem, was wir im Alltag spüren:

  • Eine randomisierte klinische Studie mit Erwachsenen, die sowohl ADHS als auch eine verzögerte Schlafphase (DSPS) hatten, untersuchte den Effekt von niedrig dosiertem Melatonin in Kombination mit Lichttherapie und festen Schlafenszeiten. Interessanterweise verbesserten sich die Schlafzeiten nicht signifikant – die Teilnehmenden schliefen nicht früher ein und wachten nicht erholter auf. Trotzdem reduzierten sich ihre ADHS-Symptome um etwa 14 % (van Andel, Bijlenga, Vogel, Beekman & Kooij, 2022). Warum das so war, ist noch nicht vollständig geklärt. Vermutet wird ein Einfluss auf das circadiane System oder eine direkte Wirkung von Melatonin auf Neurotransmitter wie Dopamin.
  • Bei Autismus zeigen systematische Reviews, dass viele Betroffene unregelmäßige Melatoninrhythmen haben, schlechter schlafen und länger zum Einschlafen brauchen. Melatonin als Ergänzung verbesserte in mehreren Studien nicht nur das Einschlafen, sondern auch die Schlafdauer und teilweise sogar das Verhalten am Tag (Rossignol & Frye, 2011).
  • In beiden Bereichen wird Lichttherapie als vielversprechend beschrieben: Helles Licht am Morgen kann die innere Uhr stabilisieren, Melatonin zur richtigen Zeit absenken und das Aufwachen erleichtern.

Wenn man mit ADHS und Autismus lebt, summieren sich diese biologischen Muster – spätes Melatonin, niedriges Dopamin, sensorische Überforderung – zu einer massiven Hürde. Kein Wunder also, dass „Morgenroutine“ für viele von uns wie ein Mythos klingt.


Ausblick

In eineinhalb Wochen enden bei uns die Sommerferien – und ich sehe diesem Zeitpunkt mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freue ich mich auf die Struktur, die der Schulalltag zurückbringt. Andererseits weiß ich, dass die morgendlichen Herausforderungen dann wieder beginnen: Wecker, Schulbus, Jausenboxen, Hektik. Schon jetzt spüre ich das Gewicht dieser Umstellung, während ich die letzten langsameren Sommermorgen noch genieße.

Mein Ziel für die Zukunft ist es, mein Leben so zu gestalten, dass die Morgen weniger Stress enthalten, mehr Raum zum Atmen und ein Tempo, das zu mir und meiner Familie passt. Ich experimentiere mit ADHS-Medikamenten, um das Morgentief abzufangen – manchmal funktioniert das gut, manchmal passt die Dosis oder das Präparat nicht mehr und ich muss neu ansetzen.

Vielleicht probiere ich als Nächstes auch Lichttherapie. Die wissenschaftlichen Ergebnisse machen Hoffnung. Die Vorstellung, den Tag mit dem richtigen Licht zu beginnen, fühlt sich für mich nach einem freundlicheren Start an. Einfach wird es für mich vermutlich nie. Aber vielleicht wird es leichter, weicher und mehr im Einklang mit dem, was ich bin. Und allein das ist ein Ziel, für das es sich lohnt, weiterzugehen.


Literatur

Rossignol, D. A., & Frye, R. E. (2011). Melatonin in autism spectrum disorders: A systematic review and meta-analysis. Developmental Medicine & Child Neurology, 53(9), 783–792.

van Andel, E., Bijlenga, D., Vogel, S. W. N., Beekman, A. T. F., & Kooij, J. J. S. (2022). Effects of chronotherapy on circadian rhythm and ADHD symptoms in adults with delayed sleep phase syndrome: A randomized clinical trial. Journal of Biological Rhythms, 37(6), 673–689.

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